Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Predigt über Johannes 20 an Ostern 2011


Liebe Gemeinde,

was treibt Johannes an, 75 Jahre nach Jesu Tod noch einmal ein Evangelium zu schreiben? Es gab doch schon die ersten drei Evangelien. Auch Paulus hat längst die gute Botschaft in die Welt getragen. Wir wissen heute, dass es zur Zeit des Johannes bereits Gemeinden in der heutigen Türkei, in Griechenland, in Italien, in Ägypten gibt. Warum also noch einmal ein neues Evangelium, und dann auch ein ganz anders, dass sich so stark von Markus, Matthäus und Lukas unterscheidet?

Wir können natürlich nur spekulieren. Niemand war dabei, es gibt keine Interviews mit dem Verfasser. Aber die Vermutung liegt nahe, dass Johannes der Meinung war, das Wesentliches noch nicht gesagt war. Weder durch die Briefe des Paulus, die ebenfalls als Kopien in der jungen Christenheit von Ort zu Ort gingen und in den Versammlungen der Gemeinden gelesen und bedacht wurden. Noch in den Evangelien nach Matthäus, Markus oder Lukas. So ungewöhnlich ist das ja nicht, es geschieht auch heute noch immer wieder, dass über Menschen unserer Zeit immer wieder neue Biographien veröffentlicht werden - auch wenn es schon welche gibt. Neue Details, Briefe o.ä. tauchen z. B. auf, neue Sichtweisen und Erkenntnisse lassen aus einem zeitlichen Abstand einen Menschen plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Ich vermute, es ging Johannes ähnlich. Er wird einige Geschichten von Jesus auf seinem Schreibtisch gehabt haben, die in den anderen Evangelien nicht erwähnt wurden. Und er wird sich mit Fragen beschäftigt haben, die aus den Gemeinden heraus gestellt wurden, auf die die Gläubigen Antworten suchten, aber sie nicht in den vorhandenen Texten fanden. Und gerade die Geschichten von der Auferstehung nehmen bei Johannes so breiten Raum ein, dass wir vermuten können, dass hier ein Bedürfnis, eine Sehnsucht, eine Erwartung in den Gemeinden bestand, die von den anderen Evangelien so nicht erfüllt wurde.

Es ist die Frage: Welche Bedeutung hat Ostern für uns?

Dabei interessiert nicht die historische Korrektheit. Nehmen wir die vier Evangelien und legen die Ostergeschichten nebeneinander, dann stellen wir fest, das lässt sich nicht in Übereinstimmung bringen. Das einzige, worin sie sich wirklich einig sind, ist die Tatsache, dass das Grab am Ostermorgen leer ist. Aber so wichtig ist diese Frage auch nicht, denn könnten wir einen historisch gesicherten Ablauf rekonstruieren, Glauben schaffen täte dies nicht.

Denn die sogenannten historischen Fakten sind ziemlich leblos. Steine und Jahreszahlen werden erst lebendig, wenn dazu die Geschichten erzählt werden. Das erleben wir in diesen Wochen doch auf anschauliche, unheimliche, beunruhigende Art und Weise. Da flimmert Tag für Tag über Wochen das Bild eines Betongebäudes über unsere Bildschirme, aus der Ferne aufgenommen, meist bei strahlendem Sonnenschein. Doch was da noch alles strahlt und was dies bedeutet, dass wird uns erst klar, wenn die Geschichte dazu erzählt wird. Und dann entstehen ganz andere Bilder in unseren Köpfen, Gefühle regen sich mit einem Mal...

Und »wirklich« herauszufinden, was denn »tatsächlich« passiert ist, nun, da sagen doch die TV-Bilder der Betonruine auch wenig. Das wird doch erst lebendig, wenn die Geschichten der Menschen dazu erzählt werden, von denen, die ihre Orte verlassen müssen - stellen Sie sich nur vor, Sie mssßten Hals über Kopf Voerde verlassen – und mancher von Ihnen hat da ganz eigene Bilder vor Augen, von Flucht und Vertreibung in der eigenen Jugend...

Und doch stellt sich trotz der Bilderfluten, trotz der unzähligen Schicksale, die uns da geschildert werden, immer wieder die bange Frage: Was ist da Wahrheit, was ist da wirklich geschehen? Wer sagt die Wahrheit, wer lügt? Oder gibt es gar verschiedene Wahrheiten, weil es immer um die Bewertung aus meinem eigenen Blickwinkel geht...?

Nehmen wir doch mal an, Johannes vermisst in den bisherigen Erzählungen von der Auferstehung für seinen Glauben so Wichtiges und Wesentliches, dass er sich gedrängt fühlt, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Was könnte das sein?

Johannes beschreibt in aller Ausführlichkeit die Begegnungen von Maria, von Petrus, von Thomas mit dem Auferstandenen. Steht bei den anderen Ostergeschichten von Markus, Matthäus und Lukas noch die Überraschung, ja das Erschrecken über das Unfassbare und Unbegreifliche im Zentrum des Erlebens, so hat sich, ich will es mal etwas unschmeichelhaft sagen, die Gemeinde 70 Jahre daran gewöhnt. Jesus ist auferstanden? Ja, er ist auferstanden! Das ist wunderbar und ein Geschenk Gottes, aber – neu ist das Ereignis nun wahrlich nicht mehr. Und so geht es Johannes, so vermute ich um die Beziehung zwischen dem Auferstandenen und diesen Menschen. Es geht um die Frage: wie leben als Christin, als Christ nach Ostern? Und die Personen, die da im Evangelium begegnen, die werden zu Vor-Bildern des Glaubens. Und die Begebenheiten von Petrus, Thomas und Maria gestaltet Johannes entsprechend aus. In unserem Predigttext geht es um eine Liebesbeziehung. Liebe ist es, was diese beiden Menschen verbindet. Liebe ist es, die den Tod und die Trauer überwindet. Liebe ist die Kraft, die hinter der Auferstehung steht. Es geht um Liebe, um nichts anderes.

Die Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena war schon immer Anlass für vielfältigste Spekulationen. Kein Zweifel besteht darin, dass die Beziehung von Liebe geprägt war. Wie weit diese Liebe ging, nun, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Für die einen war es eine Beziehung, die aus Dankbarkeit getragen war, weil Jesus Maria einst von Dämonen befreit hat. Für die anderen war Maria sicher in Jesus verliebt (und vielleicht auch Jesus in Maria), aber die Beziehung konnte natürlich nicht ausgelebt werden. Da sind ganze Romane drüber geschrieben und Filme drüber gedreht worden. Das ganze gipfelt in der Vermutung, Maria sei mit Jesus verheiratet gewesen, die Ehe sei aber geheim gehalten worden, weil sie zur Rolle Jesu als Prophet und Messias nicht gepasst habe. Wie dem auch sei, wir wissen es nicht und werden es auch nicht erfahren. So ist das mit den historischen Fakten.

Sicher scheint aber, wenn wir diesen Text hören und auf uns wirken lassen, dass die Beziehung zwischen Maria und Jesus schon außergewöhnlich vertraut gewesen sein muss. Hier schwingt eine große Nähe und Zärtlichkeit mit. Gefühle von Trauer, von Erkennen, von Hoffnung werden mit wenigen Pinselstrichen angedeutet und es entsteht vor unseren Augen ein Bild, in dem sich zwei liebende Menschen - für die eine überraschend - wiedersehen. Um Liebe geht es hier, um nichts anderes.

Wie könnte es auch anders sein! Gott ist die Liebe, heißt es in den Johannesbriefen. Martin Luther unterstrich diesen Satz mit dem Bild, dass Gottes Liebe wie ein glühender Backofen sei. Ein wärmender Backofen, der Wärme ausstrahlt, ja gar nicht anders kann, als Wärme abzugeben. Diese Liebe hat Jesus zu seinen Lebzeiten buchstäblich verkörpert. Menschen wurde in seiner Gegenwart warm ums Herz, sie lebten auf, ja wurden gesund. Jesus verkörperte in seiner Person die Liebesbeziehung Gottes zu den Menschen. Und das war und ist ganz sicher keine »platonische«, von Gefühlen frei gehaltene Liebesbeziehung. Letzten Sonntag haben wir in der Predigt von dieser intimen, schon ansatzweise erotischen Begebenheit gehört, als eine Frau Jesus kurz vor seinem Tod mit teurem Öl salbt. Immer wieder haben vor allem Mystikerinnen und Mystiker im Lauf der letzten zweitausend Jahre die Beziehung zwischen Jesus und seinen Nachfolgern mit Worten beschrieben, die wir als Sprache der Liebe und der Erotik kennen. Und das fängt schon im Neuen Testament an, wenn Jesus selbst von sich als Bräutigam spricht.

Wie dem auch sei: Mit einem Wort durchbricht der Auferstandene hier die Trauer der liebenden Maria. Sie geht wie abertausende Menschen zum Grab eines lieben Angehörigen. Sie sucht Trost in der Nähe des Verstorbenen, will ihren Gefühlen dort freien Lauf lassen, der Bedeutung dieses Menschen für das eigene Leben nachspüren. Aber durch die Tränen ihrer Trauer begreift sie erst nichts. Doch dann spricht Jesus sie an - mit ihrem Namen. Und es wird ganz sicher nicht nur der Name gewesen sein, der Maria die Augen öffnet, sondern vor allem der Ton, mit dem Jesus sie anspricht. Mit Liebe und Zärtlichkeit, mit dem ganzen Wissen um ihre Beziehung. Und sie antwortet spontan: Rabbuni, Lehrer, Meister - vermutlich das Wort, mit dem sie ihn früher auch angesprochen hat.

Und dann scheint so, als würde hier ein Stück fehlen im Text. Im nächsten Satz spricht Jesus: Halte mich nicht fest! Johannes spart diese intime Szene des Erkennens vielleicht ganz bewußt aus, überlässt hier alles der Phantasie der Zuhörerin und des Zuhörers. Es wird es wohl so gewesen sein, wie wir es tagtäglich an Bahnsteigen und Flughäfen beobachten können und sicher auch schon selbst erlebt haben: Menschen fallen sich nach längerer Trennung in die Arme, drücken sich, wollen nicht nur mit Worten oder Blicken deutlich machen, dass sie sich über das Wiedersehen freuen, sondern dies auch körperlich ausdrücken. Aber das wehrt Jesus ab: Halte mich nicht fest! Er ist zwar lebendig, aber nun doch ganz anderes anwesend als vorher. Und Maria begreift dies, so scheint es, sofort. Aber ihre Trauer ist wie weggeblasen. In großer Ruhe und Souveränität geht sie zu den Jüngern und verkündet ihnen: Ich habe Jesus, den Lebendigen gesehen. Punkt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Kehren wir nun noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: was ist das Neue, das Besondere an dieser Geschichte? Warum erzählt Johannes uns dies? Vielleicht drückt sich in dieser Geschichte und in den bei Johannes folgenden Ostergeschichten mit dem ungläubigen Thomas und dem neuerlichen Fischzug des Petrus die Frage nach der Beziehungsqualität aus: Ja, Jesus ist auferstanden. Ja, Gottes Kraft überdauert auch den Tod. Aber, und das wird hier deutlich, dieser oft so ferne und unbegreifliche Gott ist der derjenige, der uns liebt wie ein glühender Backofen, wie Martin Luther einmal formuliert hat. Und diese Liebe strahlt in unsere Welt hinein, will uns, mich und dich, lebendig machen.

Amen.